Als wir kurz vor 08:00 Uhr morgens den Heliport der Air Zermatt am Dorfrand betreten, ist es ruhig. Die Vögel zwitschern von den Bäumen nebenan, die Helikopter mit der auffälligen, rot-weissen Lackierung glänzen vor dem Hangar in der Morgensonne. Dass dies heute nicht so bleiben würde, ist der Rettungscrew der Air Zermatt allerdings längst klar: Es ist ein warmer, sonniger Freitag im Juli und tausende Outdoor-Begeisterte werden sich heute auf den Wanderwegen, Bike Trails und Bergrouten rund um Zermatt tummeln. Dass sich an solchen Tagen auch Unfälle und Notsituationen ereignen werden, ist praktisch unvermeidbar.
Die Vermutung bestätigt sich schnell: Als wir die heutige Rettungscrew der Air Zermatt, bestehend aus Notarzt Philipp, Rettungssanitäter Stefan und Helikopterpilot Simon im Hangar treffen, sitzt das Team längst nicht mehr beim gemeinsamen Morgenkaffee. Bereits um sechs Uhr wurden sie durch einen Notruf am Matterhorn geweckt – eine Gruppe von Bergsteigerinnen und Bergsteigern hat sich in eine missliche Lage geklettert und eine Evakuierung angefordert.
Rund 15 Minuten nach dem Notruf waren die Rettungsspezialisten bereits in der Luft. Auch wenn die Crew im Dienst nachts zuhause schlafen kann, muss sie sich jederzeit innert wenigen Minuten auf dem Heliport einfinden können.
Eine Rettung in Saas-Fee steht an
Nur wenige Minuten nach unserer Ankunft wird es bereits wieder hektisch: Über Lautsprecher wird die Rettungscrew zur Einsatzzentrale gerufen, wo sie Details zum Einsatz erhalten. Bergsteiger haben aus dem alpinen Gelände in der Nähe von Saas-Fee einen Notruf abgesetzt, nachdem eine Person ihrer Gruppe im felsigen Gelände abgestürzt war. Das Briefing ist kurz, die Aufgabe klar. Noch während sich die Crew zum Helikopter begibt, wird bereits ein Rettungsspezialist für diese anspruchsvolle Bergung avisiert. Diese äusserst erfahrenen Bergführer arbeiten mit der Air Zermatt eng zusammen und werden beigezogen, wenn sich Patientinnen und Patienten in unwegsamen Gelände befinden.
Nach einem kurzen Zwischenstopp oberhalb von Zermatt ist die Rettungscrew so auf vier Personen angewachsen und unterwegs nach Saas-Fee. Während des Fluges bereiten sich Notarzt, Rettungssanitäter und Rettungsspezialist in der Kabine vor, ziehen den Klettergurt an und legen die passende Ausrüstung bereit. Gleichzeitig hält der Pilot Ausschau nach den Bergsteigern – und findet sie nach kurzer Zeit im felsigen Gelände. Wie so oft ist eine Landung an der Unfallstelle aber unmöglich und die Retter steigen bei schwebendem Helikopter aus.
Man merkt: Die Handgriffe bei der Bergung sitzen. Wie uns Notarzt Philipp, der seit fast zehn Jahren diesen anspruchsvollen Job ausübt, später zwischen den Einsätzen erzählt, arbeiten die Crews trotz stetig ändernder Zusammensetzung hervorragend zusammen.
«Wir haben bei uns ein System, das sehr gut auf den Einsatz adaptierbar ist und trotzdem eine klare Rollenverteilung kennt: Der Pilot fliegt, der Arzt verantwortet alles Medizinische und der Rettungssanitäter dient als Bindeglied dazwischen – beispielsweise wenn es darum geht, die Winde bei einer Bergung am langen Seil zu bedienen.»
Philipp Venetz, ärztlicher Leiter bei der Air Zermatt
Dass hier Profis am Werk sind, ist auch an der Effizienz während der Rettung erkennbar. Nach der Erstversorgung werden der Verunfallte und die Angehörigen für den Transport per Longline (langes Seil) angeseilt und in zwei Rotationen (Hin- und Rückflug) sorgfältig vom Piloten Simon nach Saas-Fee gebracht. Während diesem Transport werden sie stets vom Rettungsspezialisten begleitet. Die Konzentration ist hoch, rund um das Dorfgebiet machen Seilbahn- und Stromkabel das Fliegen mit Personen an der Longline zur grossen Herausforderung. Nach weniger als einer Stunde steht die Crew für den nächsten Einsatz wieder zur Verfügung und fliegt zurück nach Zermatt.
Reden hilft – besonders nach belastenden Einsätzen
Obwohl die meisten Rettungseinsätze erfolgreich verlaufen und die Geretteten heil ins Spital oder ins Dorf gebracht werden können, sind die Retter immer wieder mit schwierigen Situationen konfrontiert. Leider kam bei diesem Einsatz jede Hilfe der Retter für den abgestürzten Bergsteiger zu spät. Besonders im Sommer sind Rettungen oft komplex, nicht immer können die Opfer lebend geborgen werden.
Wie man solche Erlebnisse verarbeite? «Reden hilft. Wir sprechen oft im Team über vergangene Einsätze und reflektieren diese, manchmal auch schon auf dem Rückflug. Und wenn anschliessend noch jemand von uns Mühe mit dem Erlebten hat, haben wir die entsprechenden Ressourcen und Kontakte, um zu unterstützen», sagt Notarzt Philipp – und fügt an, dass man sich in diesem Job halt auch ein bisschen daran gewöhne und es als Teil der Arbeit betrachte.
Einen geregelten Arbeitsalltag gibt es bei der Rettung nicht
Zwischen den Einsätzen bleibt jeweils Zeit auf der Basis. Dann unterhält die Crew die Einrichtung im Helikopter, erledigt anfallende administrative Arbeiten rund um die Einsätze oder verfolgt kleinere Projekte, wie beispielsweise die Optimierung des Rettungsrucksacks. Man unterstützt da, wo gerade zusätzliche Hände gebraucht werden.
Einen geregelten Arbeitsalltag gebe es aber trotzdem nicht, meint Philipp: «Gerade gestern waren wir von 15:00 Uhr bis 22:00 ununterbrochen im Einsatz. An anderen Tagen kommt gar kein Notruf rein». Doch in diesem Jahr war das bisher eher selten der Fall: Rund 1’400-mal ist die Air Zermatt im Jahr 2022 bereits zu Rettungen ausgerückt. Das sind im Schnitt über sieben Einsätze pro Tag, verteilt auf die beiden Basen in Gampel und Zermatt. Nicht zu vergessen, dass in der Winterhochsaison ein dritter Rettungshelikopter auf dem Heliport Raron einsatzbereit steht.
Schon kurz nach diesem Gespräch geht ein neuer Notruf ein: Wieder aus dem Saastal, genauer aus Saas-Almagell, wo ein 75-jähriger Wanderer gestolpert ist und sich am Kopf verletzt hat. In einer nahegelegenen Berghütte wird er bereits versorgt, doch ans Runterlaufen ins Tal ist nicht zu denken. Für die Rettungscrew ein vergleichsweise harmloser Einsatz – bereits nach wenigen Minuten erreichen wir die Almagelleralp, um den Patienten mit seiner Begleitung in den Helikopter zu verladen und ins nächste Spital zu fliegen.
Während des Einsatzes fällt auf: Die Rettungscrew ist perfekt vernetzt und in der Region verankert. Der Hüttenwart wartet bereits vor der Hütte, um den Helikopter einzuweisen, die Crew kennt das Spital in Visp bestens und sorgt für eine reibungslose Übergabe an das Spitalpersonal. Das komplexe Zusammenspiel zwischen vielen Akteuren funktioniert wie ein perfekt geschmiertes Getriebe.
Die Abrechnung: Oft ein Problem
Besonders anspruchsvolle Rettungen schlagen schnell mit fünfstelligen Beträgen zu Buche. Was während der Rettung natürlich keine Rolle spielt, kann im Nachgang zum Problem werden. Wer nicht entsprechend versichert ist oder keine Rettungskarte besitzt, bleibt teilweise auf den Kosten sitzen. «Klar: Wir fliegen niemanden ins Spital bis nach Visp oder sogar noch weiter weg, wenn es nicht nötig ist. Jede Flugminute ist teuer.», betont der Notarzt.
Ein Rechnungsbeispiel: Ein typischer Flug in der Nacht von Zermatt ins Spital nach Bern, z.B. aufgrund von Herzproblemen, wird in der Schweiz zwar zu Teilen von der Grundversicherung übernommen. Der Rest der Transportkosten, nehmen wir an, es seien rund CHF 5‘000.-, muss aber ohne Rettungskarte selber beglichen werden.
Die Crew muss perfekt funktionieren
Dass in der Bergrettung neben grossem Know-How auch viel Leidenschaft steckt, merkt man in Gesprächen mit der Rettungscrew der Air Zermatt sofort. Notarzt Philipp arbeitet auch noch im Spital, die Tätigkeit bei der Air Zermatt ist für ihn aber so erfüllend, dass er diese Arbeit als tollen Ausgleich bezeichnet.
«Die romantische Vorstellung des Fliegens im Helikopter, bei schönem Wetter und vielen interessanten Eindrücken, hat auch eine Kehrseite: Es gibt auch für uns immer ein Risiko, unser Job manövriert uns teils in nicht ungefährliche Situationen. Deshalb ist es auch so wichtig, dass die Crew perfekt funktioniert.»
Philipp Venetz, ärztlicher Leiter bei der Air Zermatt
Der Tag auf dem Heliport neigt sich dem Ende zu, die Sonne verschwindet hinter dem Matterhorn. Auch wenn Simon, Stefan und Philipp jetzt gemeinsam den Helikopter in den Hangar rollen, ist das noch lange nicht der Feierabend für das Trio – unter Umständen werden sie bereits in wenigen Momenten «Susi», wie der Rettungshelikopter liebevoll genannt wird, wieder unter Zeitdruck auf die Startposition verschieben müssen und zum nächsten Einsatz innerhalb ihrer Pikett-Schicht abheben.