Angaben zur Person:
Name: Othmar Kronig
Beruf: pensionierter Bergführer
Tätig auf diesem Beruf: 40 Jahre
Aktueller Betrieb: Ruhestand
7 Fragen an Othmar:
Gibt es ein Erlebnis in deiner Kindheit, welches dich besonders prägte?
Ich bin bei meiner Grossmutter aufgewachsen. Da hatte ich das Privileg, in ihrem warmen Bett zu schlafen. Besonders präsent ist mir ein kalter Wintermorgen. Draussen war stockfinstere Nacht. Keine Strassenbeleuchtung wies den Weg. Es lag frischer Schnee und meine Grossmutter machte sich mit einer schwachen Öllaterne in der Hand auf den Weg nach Ried, um nach den Kühen zu schauen. Ich sah dem kleinen Lichtlein nach, bis es in der Finsternis verschwand.
“Was für eine tüchtige Frau.”
Othmar Kronig
Meine Grossmutter musste bei klirrender Kälte, Dunkelheit und Neuschnee den beschwerlichen Weg ins Ried auf sich nehmen, während ich zurück ins warme Bett durfte. Schon als kleiner Junge war ich davon tief beeindruckt und dachte: „Was für eine tüchtige Frau.“ Dieses Erlebnis vergas ich nie.
Was ist schöner: Die Jugendzeit oder der Ruhestand?
Die Jugendzeit ist zweifelsohne die schönere Phase des Lebens im Vergleich zum Alter. Damals, als ich jung war, hatten Kinder uneingeschränkte Freiheit. Der Kirchplatz und die Bahnhofstrasse gehörten uns Jugendlichen. Abgesehen von gelegentlichen Pferdewagen, die langsam durch die Strassen fuhren, gab es keine Fahrzeuge. Das Dorf Zermatt war unser Spielplatz und wir nutzten es ausgiebig.
Das Leben war damals einfach – aber hart. Bergbauern lebten knapp am Existenzminimum. Da war der Alltag geprägt vom Engagement, selbst zu überleben. Zu meiner Kindheit waren in Zermatt die Einheimischen alle Selbstversorger und nur wenige Lebensmittel wie etwas Reis, Polenta oder Teigwaren wurden eingekauft.
Zermatt im Alter? Die Winter sind lang und die Spaziergänge werden immer kürzer. Wenn ich durch die Strassen gehe, fühle ich mich manchmal wie ein Fremder im eigenen Dorf unter all den Menschen.
Zermatt hat sich während deinem Leben stark verändert. Wie hast du diesen Wandel erlebt?
Als kleiner Junge war der Tourismus in Zermatt noch nicht derart präsent wie heute. Als Jugendliche hatten wir die Möglichkeit, hin und wieder mit viel zu langen Holzskis Skifahren zu gehen. Sicherheitsbindungen gab es noch nicht. Da das Verletzungsrisiko gross war, durften viele Jugendliche erst gar nicht Skifahren, da Zuhause im Haushalt und in der Landwirtschaft jede Hilfe nötig war und niemand ausfallen durfte. Skipisten gab es nicht. Wir fuhren nur ein paar Schwünge in einer Wiese. Dann trabten wir wieder hoch und fuhren wiederum zwei Schwünge hinunter. Den Aufschwung erlebte Zermatt, als man die ersten Bahnen baute.
Warum wurdest du Bergführer?
Mein Onkel besorgte mir als junger Erwachsener eine Ausbildungsstelle bei der Gornergratbahn. Das war damals etwas Gutes. An den Wochenenden hatte ich stets freie Zeit und da ich auf der Bahn arbeitete, durfte ich kostenlos Zug fahren. Zusammen mit einem Kollegen verbrachte ich jede freie Minute damit, am Riffelhorn Klettern zu gehen. Auf diese Weise entdeckte ich meine Leidenschaft fürs Felsklettern. Ob es nun eine gute Entscheidung war oder nicht, wusste ich damals nicht. Doch ich folgte meinem Herzen und gab meine Stelle bei der Bahn auf, um Bergführer zu werden.
Das Bergsteigen wurde für mich lebenswichtig. Nicht nur wegen dem Einkommen, sondern weil es mich mit Freude erfüllt hat und meinen Charakter geprägt hat. Auf meinen Touren habe ich gerne Herausforderungen angenommen und auch mal gelitten. Das Leiden hat mich weitergebracht und geholfen, meine Grenzen zu überwinden. Beim Bergsteigen geht es nicht darum, den Berg zu besiegen, sondern sich selbst. Körperlich in guter Form zu sein, tut auch der Seele gut.
Du warst mit Yvette Vaucher an der Seilschaft, die als erste Frau die Matterhorn-Nordwand bezwungen hat. Welche Erinnerung hast du an diese Tour?
Zermatt feierte 100 Jahre Erstbesteigung des Matterhorns. Bei meiner Bergführer-Ausbildung lehrte ich Michel Vaucher, den Mann von Yvette, kennen. Auf der Hörnlihütte kam Michel plötzlich zu mir und sagte, ich solle mit Yvette und ihm die Nordwand durchqueren. Ich hatte genug Erfahrung zu wissen, dass die Besteigung der Nordwand eine grosse Sache ist. Ich sagte aber zu, nicht zuletzt auch, weil Michel und Yvette Vaucher zu den besten Bergsteigern gehörten. Der psychische Druck war gross. Als wir aber um Mitternacht zur Tour starteten, war die Nervosität weg. Meter für Meter bestiegen wir die Nordwand. Michel als Führer, Yvette in der Mitte und ich am Schluss. Kurz unterhalb des Dachs mussten wir biwakieren. Doch ich sah die fixen Seile am Hörnligrat und wusste, dass wir den Gipfel am nächsten Tag schaffen werden. Und so war es auch. Yvette hat eine grosse Leistung erbracht.
Mir persönlich bleiben besonders zwei Momente in Erinnerung. Als wir in der Nordwand biwakierten, zündete ich den Kocher an. Das Bild des violetten Feuers des Kochers mit den Lichtern aus Zermatt im Hintergrund, hat sich in meine Seele gebrannt. Ich hatte das Gefühl, dass „mein Zermatt“ da unten war. Ausserdem berührten mich die Gratulationen meiner Bergführer-Kollegen. Bergführer sind meistens wortkarg und zeigen kaum Gefühle. Als wir aber beim Abstieg meine Kollegen kreuzten, umarmten sie mich. Diese Gesten vergesse ich nie.
Du warst zwei Jahrzehnte Dorfrichter. Welche Erinnerungen nimmst du aus dieser Tätigkeit mit.
Ich dachte eigentlich, dass ich die Zermatter kenne. Doch wenn Menschen in Konfliktsituationen aufeinandertreffen, reagieren sie ganz anders als im Zermatterstübli während einem Apéro. Häufig wurden Themen diskutiert, die gar nicht zum eigentlichen Dossier gehörten. Es ging um alte Geschichten, die nie ausgesprochen worden waren. Aus der Tätigkeit als Dorfrichter konnte ich persönlich viel lernen, vor allem das Zuhören: Immer wieder aufmerksam zuhören, Geduld haben und nicht unterbrechen. Eine wichtige Lektion, die ich aus dieser Erfahrung ziehen konnte.
Zermatt ist für mich…
Heimat! Ich kann mir nicht vorstellen, an einem anderen Ort zu wohnen. Zermatt ist und bleibt meine Heimat.